Die Literaturseite von Eckart Winkler
Der Sprung in der Schiene

 

Nervös kaute er an seinem Bleistift, während er aus dem Fenster sah. Nervös war auch sein Blick, der keine feste Richtung hatte, sondern schnell von einem Ziel auf das nächste wechselte. Dann nahm er eine kurze Eintragung in sein Notizbuch vor, um hernach zu seiner alten Beschäftigung zurückzukehren.

Dieser korpulente Mittfünfziger saß neben einer attraktiven jungen Frau, der er nur wenig Platz auf der Sitzbank ließ. Derart in die Ecke gedrängt zu sein, schien sie aber nicht viel zu kümmern. Die Augen geschlossen, versuchte sie etwas von dem versäumten Schlaf der vergangenen Nacht nachzuholen.

Der Platz neben mir war freigeblieben. Das war mir sehr angenehm, denn ungern wäre es mir so wie der jungen Frau gegenüber gegangen. So dünn wie sie hätte ich mich nicht machen können.

Ich saß also wieder im Zug Frankfurt - Gießen, in dem ich auch am Tag zuvor gesessen hatte und am Tag danach sitzen würde. Gemeinsam mit dem Mittfünfziger und der jungen schlafenden Frau wartete ich auf die Abfahrt, die sich wie so oft um wenige Minuten verzögerte, "wegen Verspätung eines Anschlußzuges", wie es hieß. Wie immer kamen aus diesem Anschlußzug einige naßgeschwitzte Gestalten angehetzt, bevor der Zug den Bahnhof verließ.

In den ersten Minuten läßt sich die Verspätung nie aufholen, denn es gibt noch einen Stop in Frankfurt-West. Dann wird jedoch erst wieder in Friedberg Station gemacht. Bis dahin ist der Zug meist wieder im Plan. Nicht jedoch an diesem Tag. Aber der Reihe nach.

Nach Lesen war mir nicht zumute, und so fiel ich in jenen Dämmerzustand zwischen Wachen und Schlafen, in dem sich Traum und Realität so angenehm vermischen und man zu völlig neuen Ansichten über unsere Welt gelangt.

Da war es mir plötzlich, beim Passieren des Bahnhofs Bad Vilbel-Süd, als seien wir hier schon vorbeigekommen, als müßten wir also eigentlich schon weiter sein. Diesen Eindruck schrieb ich aber meinem gegenwärtigen Zustand zu und maß ihm weiter keine Bedeutung bei. Ganz anders reagierte ich jedoch, als das nächste Mal ein Stück Realität mein Gehirn erreichte und wir gerade wieder Bad Vilbel-Süd durchfuhren. Das kam mir dann doch merkwürdig vor, und ich zwang mich zum Wachsein.

In dem Augenblick, von dem ab ich zuverlässig Zeugnis ablegen kann, befanden wir uns etwa an der Stadtgrenze von Frankfurt, zu Beginn jener langgezogenen Linkskurve, die den Zug an Bad Vilbel vorbei in die Tiefebene der Wetterau führt. Nach menschlichem Ermessen hatten wir also Bad Vilbel-Süd noch vor uns. Und richtig, nach kurzer Zeit sah man die Schilder mit der Aufschrift "Bad Vilbel-Süd", die Fahrkartenautomaten, den Bahnsteig und die Menschen, die auf die S-Bahn nach Frankfurt warteten, an uns vorbeifliegen.

Alles schien so normal wie immer zu sein, nur lag der Zug ganz und gar nicht mehr im Zeitplan. Vor einer Viertelstunde schon hätten wir Bad Vilbel hinter uns lassen müssen, bei dieser hohen Geschwindigkeit eigentlich kein Problem.

Aber tatsächlich, der Zug hatte soeben die Nidda überquert, links lag der Sportplatz, vor uns der Bahnhof von Bad Vilbel, da wurden wir zurückgeschleudert. Meine Beobachtung war richtig gewesen. Es gab jedoch keinen Ruck, keine Richtungsänderung und kein Bremsen. Wir fanden uns vielmehr zwischen den Bahnhöfen Frankfurt-Berkersheim und Bad Vilbel-Süd wieder und fuhren unverändert in Richtung Gießen. Nochmal beobachtete ich dieses Schauspiel und ein drittes Mal. Es war kein Zweifel möglich.

Auch anderen war diese Merkwürdigkeit aufgefallen. Das anfängliche unterschwellige Gemurmel war lautstarken Diskussionen gewichen. Einzig die Schönheit mir gegenüber genoß weiter ihren Schlaf. Der Dicke hatte seinen Bleistift fast durchgekaut.

Da richteten sich die Augen aller auf den Schaffner, der zur Tür hereinkam. Er wurde sogleich von einem bärtigen Mann energisch angesprochen, so als sei er für den gegenwärtigen Zustand verantwortlich. Die Diskussionen stoppten abrupt, jeder wollte hören, was der Schaffner zu sagen hatte. Und er sagte die folgenden unglaublichen Worte: "Meine Damen und Herren, wir haben es mit einem Sprung in der Schiene zu tun."

So viele fragende Gesichter auf einmal bekommt man selten zu sehen. "Na, Sie wissen schon. Denken Sie einmal an eine Schallplatte mit einem Sprung. Ewig und ewig dreht sich die Platte, und der Tonarm kommt doch nie am Ende der Platte an, weil er immer an einer gewissen Stelle eine Umdrehung zurückgeworfen wird." Ratlosigkeit unter den Fahrgästen.

Und dann: "Ja, Sie haben recht. Wir fahren ewig und ewig in Richtung Gießen und kommen doch nicht an, weil der Zug immer an einer gewissen Stelle zurückgeworfen wird." sagte ein Mädchen, vielleicht fünfzehn Jahre alt. "Sehen Sie, so einfach ist das. Es besteht wirklich kein Grund zur Beunruhigung."

Eine ältere Dame mit resolutem Aussehen mischte sich ein: "Aber wir wollen doch in Gießen ankommen. Keiner von uns möchte ewige Zeit an diesem 'Sprung' zubringen! Haben Sie daran gedacht?" - "Aber sicher, meine Dame. Gestern ist hier nur ein einziger Personenzug hängengeblieben, und das auch nur aufgrund seiner geringen Geschwindigkeit. Als er schneller fuhr, überwand er den Sprung mit Leichtigkeit."

"Wir fahren aber doch schon sehr schnell." warf die Fünfzehnjährige ein. "Jaja, heute scheint es nicht so einfach zu sein, über den Sprung hinwegzukommen. Er muß sich im Laufe des Tages vergrößert haben. Aber wir lassen nichts unversucht. Wenn Sie mich jetzt entschuldigen wollen."

Mit diesen Worten verließ er das Abteil. Schneller und schneller fuhr der Zug, es nutzte nichts. An der gewissen Stelle in Bad Vilbel, jenseits der Nidda, neben dem Sportplatz, kamen wir nicht vorbei. Jedesmal wurden wir zurückgeworfen, wie schnell der Zug auch fuhr.

Dann wurde es langsam versucht. Geradezu im Schneckentempo schlich sich der Zug heran. Doch auch das zeigte keine andere Wirkung als die beschriebene. Dann wollte der Lokomotivführer offensichtlich erkunden, ob man durch Rückwärtsfahren aus der gesamten Zone herauskäme. Und siehe da: Es klappte. Allerdings half uns das nichts. Die Wirkung des Sprungs in der Schiene wurde dadurch nicht verändert.

Der Zugführer entschied nun das einzig richtige. Er ließ am Bahnhof Bad Vilbel-Süd halten und alle Fahrgäste aussteigen. Denn es schien keine Chance zu geben, den Zug ordnungsgemäß nach Gießen zu bringen. So verließen wir diesen denkwürdigen Ort, der Dicke mit dem Bleistift, die schlafende Schönheit, der energische Bartträger, die Fünfzehnjährige, die resolute Dame und all die anderen, die wie ich diesem Naturschauspiel beigewohnt hatten. Wir machten uns in Bussen und Taxis auf den Weg, nicht gerade böse wegen der Verspätung, dafür konnten wir ja jetzt über ein außergewöhnliches Erlebnis berichten.

Die gesamte Strecke Frankfurt - Gießen wurde für zunächst eine Woche gesperrt. Eingehende Untersuchungen seien notwendig, so war in der Presse zu lesen. Diese Untersuchungen erwiesen sich als äußerst schwierig. Zumindest dauerten sie lange. Denn es verging nicht nur die eine Woche, sondern dazu weitere zwei Wochen, ehe die ersten Verlautbarungen über den Fall an die Öffentlichkeit gelangten.

Und auch diese waren äußerst nichtssagend. So konnte über die Ursache des Phänomens keinerlei Erkenntnis gewonnen werden. Auf der gesamten Strecke wurden noch insgesamt zwölf weitere Stellen gefunden, die sich in Kürze ebenfalls zu einem Sprung entwickelt hätten. 127 Stellen wurden als anfällig eingestuft, sich in spätestens zwei Jahren in einen Sprung verwandelt zu haben. Als Fazit wurde beschlossen, die Gleise der gesamten Strecke zu erneuern, was weitere drei Monate in Anspruch nahm.

Das war vor einem halben Jahr. Mittlerweile läuft der Schienenverkehr zwischen Frankfurt und Gießen wieder reibungslos, und nichts hätte mich veranlaßt, noch einmal über jenen Vorfall nachzudenken. Da kam jedoch vor zwei Tagen eine Meldung aus Norddeutschland. Man hört dort von ähnlichen Vorkommnissen auf der Strecke Hamburg - Bremen. Auch der Süden scheint betroffen. Auf der Strecke München - Garmisch-Partenkirchen soll in der Nähe der Stadt Weilheim ein Intercity hängengeblieben sein.

Sollten sich derartige Vorkommnisse häufen, kann ich nicht mehr an eine natürliche Erklärung glauben, die ich, wenngleich unbekannt, bisher nie angezweifelt hatte.

 
Eckart Winkler, Bad Nauheim, Mai 1991, www.eckart-winkler.de

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