Die Literaturseite von Eckart Winkler
Alles ganz normal

 

Wie jeden Tag betritt Henry gegen 17 Uhr das Café am Marktplatz. Wie jeden Tag hängt er seine Jacke an die Garderobe neben dem Eingang. Wie jeden Tag nimmt er an dem Tisch am Fenster Platz, von dem aus man den besten Blick über den Marktplatz hat. Die Kellnerin kommt, und wie jeden Tag bestellt er ein Kännchen Kaffee und ein Stück Schwarzwälder Kirschtorte.

Der Kaffee kommt, die Schwarzwälder Kirschtorte kommt. Ganz gemächlich beginnt er zu essen, nimmt hin und wieder einen Schluck. Und er sieht sich das Geschehen auf dem Marktplatz an.

Da gehen Leute von links nach rechts und von rechts nach links. Jugendliche mit Walkman, Mütter mit Kinderwagen, Männer mit Aktentasche. Zwei Halbwüchsige spielen Fußball, ein Gemüsehändler verjagt sie. Einem älteren Herrn reißt die Einkaufstüte, Äpfel kullern über den Asphalt. Ein Auto hat verkehrswidrig geparkt, es wird abgeschleppt.

Etwa 50 Leute kommen auf den Platz . Sie haben Fahnen und Transparente dabei, im Sprechchor fordern sie den Bau der Umgehungsstraße. Ein 28-jähriger Mann entreißt einer Rentnerin die Handtasche und läuft davon. Die Rentnerin stürzt und bricht sich das linke Bein.

Mit hoher Geschwindigkeit kommt ein blauer Wagen daher, verfolgt von einem Polizeiwagen mit ebenso hoher Geschwindigkeit. Ein Schuß fällt. Zwei Männer geraten in Streit. Der eine zieht ein Messer, sticht dem anderen in die Brust und flieht. Der Gestochene bricht zusammen und bleibt in einer Blutlache liegen.

Im Haus gegenüber ereignet sich eine Gasexplosion, die ganze Vorderfront fällt in sich zusammen. Polizisten mit Maschinenpistolen gruppieren sich um den Eingang einer Bank. Maskierte mit einer Geisel kommen heraus. Sie besteigen ein bereitgestelltes Auto und rasen davon.

Ein Selbstmordattentäter zündet eine Sprengladung in der Menge. Es gibt Tote und Verletzte. Eine Druckwelle erschüttert das Café und den Marktplatz. Über den Dächern ist ein Rauchpilz zu sehen, offenbar ein Atomversuch.

Henry hat den letzten Bissen seiner Schwarzwälder Kirschtorte verspeist, den letzten Schluck seines Kaffees getrunken. Wie jeden Tag winkt er die Kellnerin herbei und bezahlt die Rechnung. Wie jeden Tag steht er auf, nimmt seine Jacke von der Garderobe neben dem Eingang und verläßt das Café.

Als er zu Hause ankommt, ist die Wohnung leer. Er setzt sich vor den Fernseher, um sich die Zeit zu vertreiben. Nach einer halben Stunde kommt seine Frau. Sie gibt ihm einen Kuß und fragt: "Wie war Dein Tag?". Und Henry antwortet: "Nichts Außergewöhnliches. Alles ganz normal."

 
Eckart Winkler, Bad Nauheim, August 2000, www.eckart-winkler.de

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